Punk aus Prinzip: Nigel Kennedy

Nigel Kennedy, 1956 in England geboren, ist der wohl renommierteste lebende Geigen-Virtuose und oft selbst Nicht-Klassik-Fans ein Begriff. Schon mit sechs Jahren beginnt er Violine zu spielen und erhält nur ein Jahr später ein Stipendium an der Yehudi-Menuhin-Schule in London. Seine Einspielung von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ ist das meisterverkaufte Klassikalbum aller Zeiten und er ist mittlerweile auch längst nicht mehr nur im Klassik-Segment aktiv, sondern unter anderem auch im Jazz. Und dieser Weltstar kommt im März tatsächlich zu einem Konzert nach Oberkochen! Mit seiner guten Laune und direkten Art war schon das Telefonat ein enormes Vergnügen.

XAVER: Nigel, im März trittst du in Oberkochen auf. Dort wirst du unter anderem Stücke von Georg Gershwin, aber auch Eigenkompositionen wie „The Magician of Lublin“ spielen. Erzähl doch bitte etwas zu deiner Beziehung zu Gershwin.

Nigel Kennedy: Das mit Gershwin fing bei mir schon in ganz jungen Tagen an, ich denke, ich muss so 13 Jahre alt gewesen sein. Ich habe zu der Zeit viel mit Stéphane Grappelli gespielt und es war eine total neue Erfahrung für mich, dass man auf einer Geige tatsächlich Jazz spielen kann. Es war ein absoluter Glücksfall, dass ich ihm, einem der absoluten Innovatoren auf dem Gebiet des Improvisierens auf der Geige, so früh begegnet bin. Und er hatte sehr, sehr viele Gershwin-Stücke in seinem Repertoire, Sachen wie „The Man I Love“, „How Long Has This Been Going On?“ und „Lady Be Good“, essenzielle Gershwin-Stücke eben. Überhaupt hat Gershwins Werk einen ganz eigenen Zauber, genau wie Grappellis Spiel, und so hat sich das perfekt ergänzt. Ich bin also den Harmonien Gershwins verfallen und dieser besonderen Kombination aus Klassik, Jazz und Klezmer – alles Genres, denen ich mich sehr stark gewidmet habe.
X: Du kannst auf eine imposante Erfolgsgeschichte zurückblicken und ich vermute mal, dass heutzutage Geld keine Motivation für dich ist. Ich vermute also, dass du nur Sachen machst, die dich in irgendeiner Weise reizen?

NK: Das stimmt absolut. Aber ich habe eigentlich schon immer nur das gemacht, was ich wollte. Schon als Jugendlicher an der Juilliard Schule in New York habe ich mit Straßenmusik auf der 5th Avenue, Höhe Tiffany, in einer Stunde 200 Dollar verdient. Und das war in den 70ern verdammt viel Geld! Ich konnte es mir also schon immer leisten, nur das zu tun, was ich möchte. Da kann selbst die BBC kommen und mir ein Projekt anbieten, auf das ich keine Lust habe – ich muss es nicht machen, denn ich kann ja jederzeit auf der Straße Geld verdienen. Geld war also nie ein Grund für mich, etwas zu tun, was ich eigentlich nicht wollte. Musik ist ein wunderbares Zusammenspiel, ob nun mit Kollegen auf der Bühne oder mittels der geteilten Energie aus dem Publikum – was eine ganz einzigartige Sache und jeden Abend wieder anders ist. Und so gibt es genügend Motivierendes, das mich dabeibleiben lässt.
X: Ich vermute aber mal, dass das eine ganze Zeit her ist, dass du Straßenmusik gemacht hast.

NK: Ich habe es tatsächlich vor vielleicht 15 Jahren noch mal probiert. Und zwar war das in London, im Covent Garden. Aber da kam dann ruckzuck so ein Depp daher und fragte mich, wo denn meine Lizenz ist. Und dann haben sie mich abgewürgt. Das ist also nicht ganz so gut gelaufen beim letzten Mal!
X: Ich hätte jetzt eher vermutet, dass du sofort erkannt wurdest und einen Massenauflauf verursacht hast.

NK: Nee, das war gar nicht das Problem. Es waren schnell ein paar Zuhörer da, aber dann kam eben der Typ und wollte meine Lizenz haben.

X: Man spricht von dir oft als vom Enfant terrible oder dem Punk der Klassik-Szene. Wie ist das denn mit Punk bei dir: Kannst du mit dem Musikgenre etwas anfangen oder interessiert dich das gar nicht?

NK: Das ist sogar von großem Interesse für mich, und zwar sowohl sozial als auch musikalisch betrachtet. Die Sex Pistols waren toll, genauso wie die Buzzcocks. Was ich so toll an dem Genre fand ist, dass es die Musik zurück zu den Leuten gebracht hat, die nicht so viel Geld hatten. Songs aufzunehmen hat damals eine Menge Geld gekostet, wenn man an die ganze andere Musik aus dieser Zeit denkt, die ja nur so von Studiospielereien überladen war – was auch seinen Reiz hat, aber es ist eine Schande, wenn Musik zu etwas verkommt, das nur reiche Leute machen können.
X: Du hast da eben zwei absolut wegweisende Bands der Frühphase des Punks genannt. Verfolgst du Punk bis heute und hast du auch in jüngerer Zeit Bands aus der Ecke für dich entdeckt?

NK: Nein. Einfach weil die Punkbands von heute – ohne da jetzt zu sehr zu verallgemeinern – nicht mehr so spannend sind. Da fehlt eben das Neue, das den frühen Bands damals anhing. Das ist ein bisschen so, wie wenn Leute heute Swing spielen. Da fehlt einfach diese flirrende Energie, die Leute wie Lionel Hampton oder Artie Shaw damals mitbrachten, weil das damals eben etwas Neues war.

X: Du bist gerade in Polen, wo du viel Zeit des Jahres verbringst, weil deine Frau eben Polin ist. Hattest du in den letzten Jahren denn schon Gelegenheit, Land und Leute kennenzulernen? Was magst du besonders an Polen?

NK: Na ja, mal ganz abgesehen von meiner Frau, die ich schon mag (lacht), gefällt mir besonders die polnische Klezmer-Musik. Und in dem kleinen Dorf, in dem wir leben, habe ich an Weihnachten mit ein paar Leuten von dort in einer Kirche gespielt. Das war eine ganz tolle Erfahrung, tolle Stimmen und die Leute waren voll dabei. Und ich liebe ja Jazz und gerade Jazz war in Polen eine so wichtige Musik. Ich bin ja Sozialist und glaube an die Idee des Gemeinschaftseigentums. Die Leute in Polen mussten da früher ja so einiges ertragen in Sachen Zensur und so weiter, aber beim instrumentalen Jazz war es völlig unmöglich, den zu zensieren und so war das enorm wichtig in der Studentenszene der 70er.
X: Ich stelle mir gerade vor, an Weihnachten in die Kirche zu gehen und da dann plötzlich einen weltbekannten und renommierten Stargeiger zu treffen.

NK: (lacht) Na ja, man kann mich nicht wirklich als Christen bezeichnen, ich habe aber sehr wohl Respekt vor den religiösen Ansichten der Leute. Mir gefiel besonders der Gemeindezusammenhalt, dass da eben alle da waren und es war eine tolle Sache, daran beteiligt gewesen zu sein. Das war auch lustig: Ich habe versucht, mich extragut zu benehmen und habe auch extra nichts getrunken, vor dem Spielen und so weiter, ich wollte es mir ja nicht verderben mit den Dorfbewohnern … und Jesus und so weiter. Wir hatten dann also eine erste kleine Probe, nachdem sich vorher jeder mit YouTube und so ’nem Quatsch vorbereitet hat. Und als wir in der Pause dann auf dem Friedhof hinter der Kirche gelandet sind, hat mir jeder Schnaps angeboten, die haben gesoffen wie die Löcher da! War also ein wirklich schöner Abend! (lacht)

X: Wie ist das heutzutage bei dir, bist du immer noch so diszipliniert und übst jeden Tag drei Stunden lang?

NK: Doch, das kommt ziemlich genau hin. Und dann komponiere ich ja auch noch, es kann also sein, dass ich nach zweieinhalb Stunden Üben noch zwei, drei Stunden am Klavier sitze und komponiere. Aber diese Arbeit abseits der Bühne erlaubt es einem erst, aufzutreten und die Stücke überhaupt spielen zu können. Ich habe da meinen eigenen Rhythmus entwickelt. Wenn ich aufstehe, spiele ich zuerst etwas Bach, weil das so schön philosophisch und gut für die Hände ist. Danach bin ich dann bereit für meine eigenen Kompositionen, oder Coltrane, oder dann auch Rock ’n’ Roll auf meiner verdammten Elektro-Violine. Ich habe dann volle Kontrolle über meine Hände und habe dann Kontakt mit diesem besonderen Geist der Musik. Und das mache ich jeden Tag, beziehungsweise sechs Tage in der Woche so, denn wenn Musik kein wesentlicher Teil deines Lebens ist, warum sollte dann verdammt noch mal jemand Eintritt zahlen, um dich zu hören? Ich liebe es, Musik zu machen, und ich fände es einfach schäbig, mich da vorne hinzustellen, ohne das ernst zu nehmen.
X: Das ist schön, dass du das so leidenschaftlich siehst. Ich denke, es gibt auch den einen oder anderen Musiker, der nur auftritt, um Rechnungen zu bezahlen und so sein Leben zu finanzieren.

NK: Genau so ist es. Ich habe keinen Fernseher, ich interessiere mich gar nicht für diesen Computer-Quatsch und schau da nur ein, zwei Mal die Woche rein, um zu sehen, wie das Wetter wird und so weiter. Ich brauche also nicht wirklich viel. Und was auch richtig toll in Polen ist, ist das Essen und die Qualität der Lebensmittel, die man hier kaufen kann. Wenn man in England eine Karotte kauft, dann ist die wunderbar strahlend orange und perfekt geformt, schmeckt aber nach gar nichts. Das Gleiche mit Kartoffeln, die bestehen in England gefühlt nur aus Wasser. Hier in Polen ist das eine ganz andere Geschmacksdimension. Ich koche auch gerne, gerne auch richtig einfache Sachen und genieße es, mit meinen Hunden jeden Tag spazieren zu gehen. Mehr brauche ich nicht.
X: Hallo? Das klingt ja richtig gesund! Und wo du die Qualität des Gemüses so preist: Bist Du Vegetarier?

NK: Nee, Mann, ich bin kein Vegetarier. Ich finde ja auch, dass viele von denen irgendwie krank aussehen. Die sagen dir zwar immer, wie gesund sie sind, sehen aber aus, als wären sie derbe krank. Ich esse schon auch Fleisch, aber eben nicht oft, vielleicht einmal die Woche. Ich war aber mal fünf Jahre Vegetarier, weil ich ja auch das Leben anderer Lebewesen respektiere. Aber ich habe mich da dann nicht sonderlich gesund ernährt, viel Käse und Milchprodukte gefuttert und war noch schlechter in Form als heute – und ich bin aktuell auch ziemlich weit von einer Olympiateilnahme entfernt! (lacht)

X: Weil du gerade den Computer erwähnt hast: Ich habe bei der Recherche eine offizielle Facebook-Seite von dir gefunden, die war aber alles andere als aktuell. Betreust du die Seite selbst?

NK: Ich habe noch nie im Leben irgendjemandes Facebook-Seite gecheckt! Soll ja jeder machen, was er will, aber ich habe den Eindruck, dass viele Leute heute schon fast besessen davon sind, sich da selbst zu präsentieren. Und was sind das dann für Bilder, die gepostet werden? Andy Warhol? Rembrandt? David Hockney? Nee, das meiste sind Selfies. Wenn ich ins Stadion zu Aston Villa gehe, was ja schon nicht immer das reine Vergnügen ist, aber egal, dann sehe ich ständig Leute, die das halbe Spiel verpassen, weil sie so sehr damit beschäftigt sind, sich selbst zu inszenieren.
X: So geht’s mir immer bei Konzerten.

NK: Genau, das ist eine Schande und bis zu einem gewissen Grad auch respektlos den Leuten gegenüber, die gerne das Konzert genießen möchten.

X: Weil du gerade erwähnt hast, dass du nicht viel im Leben brauchst: Ich habe ein Zitat von dir gelesen, wo du gesagt hast, dass du keine millionenschwere Stradivari brauchst und dass du Instrumente bevorzugst, mit denen du auch Tennis oder Cricket spielen kannst. Aber du hast jetzt nicht wirklich mal Tennis mit deiner Geige gespielt?

NK: Cricket habe ich tatsächlich nie damit gespielt. Aber die Geige, die ich heute in jedem Konzert spiele, ist ein großartiges Instrument. Sie ist ein echter Glücksgriff, denn der Hersteller hat kein anderes Instrument gebaut, das ihr auch nur annähernd nahekommt. In meiner wilden Zeit habe ich aber tatsächlich mal Tennis mit ihr gespielt, was ich heute nie mehr machen würde, weil ich weiß, was ich an ihr habe. Und um es mal so zu sagen, die Geige hat beim Tennis auch nicht so gut funktioniert wie ein Tennisschläger! (lacht)

X: Im November bist du dann wieder in Deutschland, um sechs Beethoven-Konzerte zu spielen. Diese Konzerte werden aus zwei Teilen bestehen: Im ersten spielst du Opus 61 und im zweiten dann ein von dir komponiertes Stück zu Ehren Beethovens. Mich würde interessieren, wie so ein Werk entsteht.

NK: Na ja, es sind dieses Jahr dann 250 Jahre seit der Geburt Beethovens. Und er hatte so viel Einfluss – und zwar bis in die heutige Zeit – auf die verschiedensten Musiker und Musikstile. Und mal was anderes zu machen als die geschätzt 500.000 Motherfuckers, die dieses Jahr Beethoven-Stücke spielen werden, um ein paar Extraeuro in seinem Jubiläumsjahr abzugreifen, dachte ich, dass man doch etwas schreiben könnte, das von ihm inspiriert wurde und das dann eben viel persönlicher ist, als nur das schon so oft Gehörte noch mal durchzunudeln. Und ich liebe Beethoven, was wiederum viel mit meinem Lehrer Yehudi Menuhin zu tun hat, der einer der größten Beethoven-Interpreten war. Beethovens Einfluss geht aber meiner Meinung nach bis hin zu Bands wie Led Zeppelin oder auch Minimal-Music mit ihren wiederholten Passagen. In seiner Musik ist auch viel mehr schiere Kraft als zum Beispiel in Klassikwerken von Mozart oder Haydn. Und dieses Stück, an dem ich arbeite, wird mein erstes für so ein großes Orchester sein – 45 Musiker! Aber ich habe erst circa 20 Prozent fertiggestellt.

X: Stell dir zum Abschluss vor, dass du die Märchenfee treffen würdest und sie dir drei Wünschen erfüllen würde – welche wären das?

NK: 1. Aston Villa soll die Champions League gewinnen, 2. St. Pauli soll Deutscher Meister werden und 3. Cracovia Krakau soll Polnischer Meister werden. Die sind in Polen so ein bisschen wie St. Pauli in Deutschland und waren immer unabhängig und nie staatlich gesteuert. Und ja, ich würde tatsächlich alle drei Wünsche für Fußball verwenden, einfach weil ich glaube, dass der Rest des Lebens gut läuft, wenn man nur eine positive Grundeinstellung hat!


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